Singapur Die West View Primary School ist etwa 90 Minuten mit der Metro von Downtown entfernt. Ich muss also früh los, um pünktlich um 8:30 Uhr dazusein. Ganz unpassenderweise regnet es fürchterlich. Bis zur nächsten Metro sind es nur 400 Meter, die ich gut plane, um möglichst nicht ohne Dach überm Kopf laufen zu müssen. Es windet, stürmt, donnert und blitzt. Ich mache das Wetter dafür verantwortlich, dass ich gleich zwei Regeln in Singapur breche. Das erste Vergehen: Ich überquere die Straße an einer nicht dafür vorgesehenen Stelle. Das nennt man hier "jaywalking" und das ist natürlich verboten, es verkürzt meine Laufzeit im Regen aber ungemein. Das zweite Verbrechen wird gegebenenfalls mit 500.- Singapur $ bestraft (330,- €): Essen in der Metrostation. Ich kann mich einfach nicht überwinden, das leckere Frühstück, das man in der Station kaufen kann, draußen im Unwetter zu essen. Weil ich noch keinen einzigen Polizisten in Singapur gesehen habe, bin ich mutig und esse direkt am Ende der Rolltreppe. Ich habe allerdings auch noch keinen einzigen Krümel in einer U-Bahnstation gesehen, weswegen ich höllisch aufpasse, bloß nichts fallen zu lassen. Obwohl ich mich für den Regenwald schon mit Regencape und Rucksackregenhülle ausgestattet habe und mir noch zusätzlich einen großen Schirm im Hostel ausgeleihen habe, bin ich vom Gürtel abwärts so nass, als ob ich in den Fluss gefallen wäre. Die anderen Fahrgäste in der Metro sind alle total trocken. Wie machen die das nur? Vielleicht sind die einfach zu gut organisiert um nass zu werden. Ich habe hier sowieso immer das Gefühl, dass alles übermäßig gut durchdacht ist. Als ich an einer oberirdischen Station der Metro über die hohe Absperrung zum Gleis schaue, sehe ich ein Schild, dass man eigentlich nur sehen kann, wenn man mutwillig über die Absperrung auf das Gleis der führerlos fahrenden Bahn klettert: "Value life. Act Responsibly." "Schätze dein Leben. Verhalte dich verantwortungsvoll." Noch eine abgefahrerene Sache: Im Stadtteil der Schule, die ich heute besuche, fährt die Hochbahn teilweise sehr dicht an den Fassaden der Wohnhäuser entlang. Um die Privatsphäre der Anwohner zu schützen, werden die Seitenscheiben der Bahn beim Vorbeifahren elektronisch zu Milchglas. Nach den Häusern hat man dann wieder vollen Durchblick. Eddie, der Rektor der Schule erwartet mich schon und macht mit mir eine Tour durch die Schule. Wir schauen in IT Räume, Labore, ins Lehrerzimmer (das aussieht wie ein Großraumbüro in den USA), in die Mensa, die Bücherei und in die Schulzahnarztpraxis. Hier bekommen die Schüler alle 6 Monate eine Zahnreinigung und die Durchsicht gleich dazu. Wenn etwas im Mund repariert werden muss, wird das sofort erledigt. Übrigens auch in den Ferien. Die Schule hat alle Werktage im Jahr geöffnet, nur Unterricht gibt es in den Ferien nicht. Die Räume haben alle ein Zugangskontrolle mit Fingerabdrucksensor. Eddie kann nicht verstehen, warum wir so etwas in Deutschland an Schulen nicht haben. Richtig staunen tut er aber erst, als ich ihm erzähle, dass wir nicht wie hier überall iPads für die Schüler zur Verfügung haben, und dass weder Beamer noch WiFi an Grundschulen Standard sind. "But why? Technology is here to stay!" Da fällt mir auch keine gute Antwort ein. Mit Sakeena zusammen gehe ich zur Schulversammlung aller 5. und 6. Klässler, die hier für die neue Woche vorbereitet werden. Außerdem gibt es eine Diskussion zu einem der Werte der Schule. Resilience. Passend dazu singen die 6. Klässler eine Lied und danach performen die 5. Klässler einen Song von Maroon 5 auf der großen Bühne - und das gar nicht mal schlecht. Jeden Morgen vor Schulbeginn, versammeln sich hier alle 1000 Schüler, um gemeinsam die Nationalhymne zu singen und sich gegenseitig zu versichern, in gegenseitigem Respekt und unabhängig von Rasse, Religion und Herkunft gemeinsam lernen zu wollen. Gegenseitiger Respekt und Unterstützung sind in der Schule überall sichtbar. Kein einziger Schüler läuft an mir vorbei ohne "Good morning, Sir." zu sagen. Streit sehe ich keinen einzigen aber dafür aber überall Dankesbotschaften an die geheimen "Engel". Jeder Schüler und jeder Lehrer hat einen "Engel", weiß aber nicht wer das ist. Immer zu Wochenbeginn gibt es einen kleinen Motivationsgruß von selbigem. Ein kleiner Brief mit aufmunternden Worten, einem Kompliment oder einer kleinen selbstgemachten Aufmerksamkeit. Eine schöne Idee. Ich mache ein wenig Deutschlandkundeunterricht in zwei 6. Klassen. Auf meine Frage, was ihnen beim Wort "Germany" einfällt, bekomme ich von der Klasse mit den leistungsstarken Kindern die Antwort: "They have Nazis. Worldchampions in Soccer. Mercedes, BMW." In dieser Reihenfolge. In der Klasse mit den schwächeren Kids sind die Antworten: "World War. Ferrari? Rolls Royce? Pizza?" Nach ein paar Deutschlandbildern am Beamer, interessiert die Schüler besonders, wie das mit dem Winter so ist, ob da Wasser draußen wirklich gefriert und ob es Kornfelder gibt. Als ich vom fehlenden generellen Tempolimit auf den Autobahnen erzähle, beschließen einige Jungs unbedingt mal nach Germany reisen zu müssen. Auch ich werde befragt. Wie groß ich bin, ob ich Basketball spiele, was ich an Singapur mag (das alles so toll organisiert ist, dass man hier mit Freude in die Zukunft schaut und natürlich das Essen), was ich an Deutschland mag (die viele Natur, die Berge, Hamburg und gute Schokolade) und welches Bildungssystem ich besser finden würde. Die letzte Frage überrascht mich. Machen sich 6. Klässler Gedanken über das Bildungssystem? Ich frage den Schüler zurück, ob er gerne zur Schule geht. "Yes, of course." Dann hat Singapur vermutlich ein ziemlich gutes Bildungssystem. Damit ist er zufrieden. Mit Rektor Eddie philosophiere ich noch eine ganze Weile über Bildungssysteme und die Rolle des Staates im Allgemeinen. Singapur regelt und lenkt das Zusammenleben der Menschen hier eindringlich und erfolgreich. Der Focus liegt auf Einheit und Zusammenhalt der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und der Gestaltung einer friedlichen, glücklichen und strebsamen Gesellschaft. Während in Deutschland zu befürchten ist, dass durch die starke Individualisierung der Gesellschaft das harmonische Miteinander zu kurz kommt, sind die Sorgen hier, eine zu homogene Gesellschaft mit einem Mangel an Kreativität. Die richtige Balance zu finden, zwischen dem Einen und dem Anderen, das ist die Aufgabe des Staates und auch der Schule.
An der Wand hängt Eddies Ernennungsurkunde zum Rektor. Der Schlusssatz lautet: "Through your hands passes the futur of the nation."
0 Kommentare
Hinterlasse eine Antwort. |